Raumzeitlichkeit des Imperialen

Organisatoren
Holt Meyer / Susanne Rau / Sabine Schmolinsky / Katharina Waldner, Erfurter RaumZeit-Forschung, Universität Erfurt
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2014 - 11.10.2014
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Von
René Smolarski, Forschungszentrum Gotha, Universität Erfurt

Bereits seit dem Jahr 2011 besteht an der Universität Erfurt eine interdisziplinäre Forschungseinheit, die sich insbesondere mit Fragen des wechselseitigen Verhältnisses von Raum und Zeit auseinandersetzt und ein- bis zweimal pro Semester Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Austausch und Diskussion einlädt. Vom 8. bis zum 11. Oktober 2014 fand unter dem Titel "Raumzeitlichkeit des Imperialen" in Erfurt und Gotha die erste internationale Tagung der Arbeitsgruppe statt. Im Fokus der Tagung standen vor allem Raumzeit-Konzepte imperialer Herrschaftspraktiken von der Antike bis zur multipolaren Gegenwart und ihrer jeweiligen Repräsentationen in den verschiedensten Medien, die aus einer interdisziplinären Perspektive beleuchtet wurden. Damit schloss sich die Tagung, wie HOLT MEYER (Erfurt) in seiner Einführung konstatierte, an eben jene kontroversen Debatten an, die durch das Erscheinen von Michael Hardts und Antonio Negris Buch "Empire" im Jahr 2000 ausgelöst wurden und bis heute quer zu den Grenzen einzelner Sozial- und Kulturwissenschaften anhalten. In ihrer Einführung betonte SUSANNE RAU (Erfurt) daher, dass es das vorrangige Ziel der Tagung sei, vor diesem interdisziplinären Hintergrund, eine breite und damit die verschiedenen Disziplinen übergreifende Thematisierung des Imperialen, sowohl aus historiographischer, kartographischer, religionswissenschaftlicher, literatur- bzw. medienwissenschaftlicher als auch ethnographischer Perspektive vorzunehmen. In insgesamt sieben Panels sollte ein substanzieller kulturwissenschaftlicher Beitrag zu den aktuellen Debatten über das Imperiale aus der Perspektive der Raumzeitlichkeit geleistet werden.

In den einführenden Worten zum ersten Panel der Tagung wiesen ROBERT FISCHER (Erfurt) und FLORIAN HEINTZE (Erfurt) darauf hin, dass im Prozess des Erzählens gerade in einem kolonialen/imperialen Kontext raumzeitliche Kategorien und Hierarchien als Mittel des kulturellen "Othering" (Spivak) verwendet wurden.

SAURABH DUBE (Mexico-City) ging auf jene Herausforderungen ein, die sich sowohl in der Moderne als auch in der Geschichte bei der Betrachtung von Raum und Zeit und ihrer Verschränkungen untereinander ergeben. Ausgehend von der Annahme, dass die Idee der Modernität stets auf einem Bruch beruhe und das Aufkommen der Moderne in diesem Zusammenhang eine Entzauberung der Welt unterstelle, verdeutlichte der Referent die kritischen Überschneidungen und die gegenseitigen Unterscheidungen zwischen Moderne, Modernisierung und Modernismus. Mit Hilfe einer Unterscheidung zwischen modern subjects und subjects of modernity wurde der Versuch unternommen, den Bruch zwischen modern und unmodern aufzulösen.

GESA MACKENTHUN (Rostock) veranschaulichte anhand ausgewählter Beispiele epistemischer Konkurrenz in Nordamerika die Bedeutung und die Auswirkungen interkultureller Kommunikation vor dem Hintergrund der Kolonialzeit. Dabei stand neben Fragen nach dem interkulturellen Übersetzen und Verstehen während der frühen Begegnungen zwischen den Kulturen sowie der Zuverlässigkeit des in den kolonialen Texten festgehaltenen, aber ursprünglich mündlich tradierten, indigenen Wissens auch die Zuverlässigkeit dieser kolonialen Aufzeichnungen an sich im Mittelpunkt der Betrachtungen. Gerade in Bezug auf die Frage nach der Zuverlässigkeit der Aufzeichnungen ging die Referentin zudem auf die unterschiedlichen und teilweise konkurrierenden Traditionen des Aufzeichnens und das damit verbundene Inbesitznehmen des Landes ein.

In ihrem Vortrag setzte sich ISHITA BANERJEE-DUBE (Mexico-City) damit auseinander, wie sowohl einzelne Menschen als auch ganze Kulturen Zeit und Raum im Alltag erleben und sich darauf beziehen. Im Fokus ihrer Betrachtungen standen sowohl die Anhänger Mahima Dharmas, eines in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Indien entstandenen radikalen religiösen Ordens, als auch die Malikas, eine Gattung jahrhundertealter apokalyptischer Texte. Anhand ausgewählter Beispiele argumentierte sie gegen allzu starre Abgrenzungen zwischen göttlichen und sozialen sowie zyklischen und linearen Zeitvorstellungen, welche eng mit der Trennung von Mythos und Geschichte verbunden seien und stellte heraus, dass die Anordnung, Trennung und Hierarchisierung von Zeit und Raum lediglich als Resultate einer Abstraktion zu verstehen seien, welche zwar den Mythos der Modernität unterstützen, aber nicht realen Lebenswelten entsprechen.

Das zweite Panel, moderiert von SUSANNE RAU (Erfurt) und KATHARINA WALDNER in Vertretung für SABINE SCHMOLINSKY (Erfurt), stand unter dem Titel "Gender in the Empire" und befasste sich kritisch und in breiter Perspektive mit dem wissenschaftlichen Diskurs über das Imperiale. Als Ausgangspunkt diente hierbei der eklatante Mangel einer Genderperspektive innerhalb der bisherigen Diskussionen über das Imperiale.

Im ersten Vortrag ging ANDREA PETÖ (Budapest) unter anderem den Fragen nach, wie Genderaspekte in digitalen Räumen konstruiert werden, in wie weit Gendering in solchen digitalen Räumen als wichtig zu erachten und es notwendig ist, auch aus einer Genderperspektive auf die neue politische Rechte zu schauen. Anhand dreier ausgewählter Webseiten, unter anderem des „Instituts für Habsburg Studien“ und des „Terror Háza Múzeums“ in Budapest, die sich mit verschiedenen Aspekten und Etappen der ungarischen Geschichte (vor allem dem Habsburgerreich, dem Naziregime und der kommunistischen Herrschaft) aus einer imperialen Perspektive auseinandersetzen, zeigte sie die verschiedenen Möglichkeiten auf, wie die Vorstellungen von Imperien heute in den digitalen Räumen neu konzipiert und Staatszugehörigkeiten neu definiert werden.

Im Anschluss daran befasste sich CHRISTINE LEBEAU (Paris) mit der Historisierung des Imperialen am Beispiel Maria Theresias. Sie stellte die These auf, dass Imperien nicht immer als etwas Homogenes und Zentrales zu verstehen seien, dass das Imperiale vielmehr als etwas Flexibles erscheint, das sich besonders am Beispiel dieser Frau und der Entwicklung ihrer Repräsentation als Römisch-Deutsche Kaiserin, insbesondere auf den "Herrscherportraits", veranschaulichen lässt. Mit Maria Theresia als erster weiblichen Herrscherin des Heiligen Römischen Reiches wird nach Ansicht Lebeaus der Beginn einer weiblichen imperialen Repräsentation markiert, in welcher sich eine ansonsten von Männern geprägte Domäne in Bildern einer Frau manifestiert. Es zeigt sich, dass sie so ihr Frausein, auch vor dem Hintergrund dieser patriarchalischen Welt, zu ihrem Vorteil zu deuten weiß.

In seinem Beitrag widmete sich SILVAN NIEDERMEIER (Erfurt) dem Bild imperialer Männlichkeit am Beispiel der Gender-Repräsentationen in den Fotosammlungen US-amerikanischer Soldaten im Philippinisch-Amerikanischen Krieg. Diese könne man als Medium der Selbststilisierung in einer Zeit begreifen, in welcher der amerikanische Mann dazu gedrängt wurde, eine aggressive Form der Männlichkeit zu verkörpern, die sich vor allem auf die Vorstellungen einer Überlegenheit der weißen Rasse und einen Streit um die Frage nach dem zivilisatorischen Fortschritt begründete. Die Fotografien, welche ein Festhalten dieses Prozesses der Wiederentdeckung der eigenen Männlichkeit für sich selbst, aber auch für andere ermöglichten, geben damit einen Einblick in die Entwicklung eines mit Figuren der Gewalt verbundenen männlichen Selbstbildes im Kontext des Philippinisch-Amerikanischen Krieges.

JOANNA DE GROOT (York) setzte sich in ihrem Beitrag direkt mit Michael Hardts und Antonio Negris Werk "Empire" aus einer Genderperspektive auseinander und kritisierte dessen nahezu vollständige Geschlechtsneutralität beziehungsweise Geschlechterblindheit. Angeregt durch Quinby's überwiegend theoretische Kritik, fokussierte De Groot die so beschriebene Lesart des Imperialen als einer Kategorie, eines historischen Phänomens und einer Gesellschaftsformation. Sie folgerte, dass dieser Stellenwert von Gender in der Konzeption des Imperialen eben über reine Missverständnisse hinausgehe, und dass er erhebliche konzeptionelle und theoretische Konsequenzen für das gesamte Projekt von Hardt und Negri habe.

In das dritte Panel, das sich mit der narrativen Konstruktion Europas auseinandersetzte, führte BÄRBEL FRISCHMANN (Erfurt) ein, welche vor dem Hintergrund der nach permanenter Erweiterung strebenden EU die Frage aufwarf, inwieweit es begründet sei, über die Idee Europa im Kontext des Imperialen nachzudenken.

OLAF ASBACH (Hamburg) konnte zwar aus persönlichen Gründen nicht an der Tagung teilnehmen, sein Beitrag wurde aber von BÄRBEL FRISCHMANN vorgetragen. In dessen Zentrum standen Überlegungen zu Genese, Konstruktion und Problemen des modernen Europa. Diese wurden vor dem Hintergrund der Frage, ob sich die neuzeitliche Narration "Europa" von Anfang an auch mit einem imperialen Anspruch verband, erörtert. In seinen Schlussbemerkungen stellte er fest, dass das Imperiale in dieser Narration eben nicht als eine Fortführung der überkommenen Imperien verstanden werden könne, sondern sehr viel komplexer sei.

Mit dem Erkenntnisinteresse Alexander von Humboldts in Amerika beschäftigte sich ELIZABETH MILLÁN (Chicago), die sich der Frage widmete, ob es sich dabei um imperiale Strategien oder eine freie Erforschung der Natur handelte. Auch wenn Humboldt sehr wohl eine Verbindung zwischen wissenschaftlichen Studien und einem politischen Wandel sah, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass er soziale Reformen mit dem Wissen über die Geographie der entsprechenden Region verband, so sah er nach Ansicht Milláns die Welt jedoch nicht durch "imperiale Augen", sondern durch die Augen eines Naturforschers mit tiefer Anerkennung für die Schönheit, der er begegnete, und gebührender Empörung über die Ungerechtigkeit, welche er beobachtete. Im Zusammenhang mit dieser Argumentation setzte sich Millán mit den Thesen von Mary Louise Pratt auseinander, die in Humboldts Sicht einen „imperialen Blick“ herausgearbeitet hat.

Im anschließenden Beitrag berichtete CHRISTIAN HOLTORF (Coburg) von einem laufenden Projekt zum erkenntnistheoretischen Status des Nordpols, in welchem die Analyse text- und bildlicher Diskurse auf die Praxis europäischer und amerikanischer Arktis-Expeditionen des 19. und 20. Jahrhunderts bezogen werden. Grundlage des Projektes bildet Kartenmaterial der Sammlung Perthes Gotha. Ausgehend von verschiedenen Expeditionen des 19. Jahrhunderts wurden Entwicklungen aufgezeigt, die durch die Auseinandersetzung mit der Geografie und Ästhetik des Nordpols in Gang gesetzt wurden und die letztlich auch die historische Wahrnehmung der Arktis nachhaltig beeinflussten.

KATHARINA WALDNER (Erfurt) wies in ihren Einführungsworten zu einem Panel über das Imperiale und das Religiöse auf die Bedeutung dieses Konnex hin. Dieser wurde im Verlauf des vierten Panels anhand dreier konkreter Fallstudien aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen veranschaulicht.

Den Anfang machte JOHN WEISWEILER (Tübingen) mit seinem Vortrag zur "Globalisierung" der Römischen Monarchie in der Antike. Im vierten Jahrhundert nach Christus sei es zu einem radikalen Wandel des öffentlichen Bildes der römischen Monarchie gekommen, der aus dem als imperialer Magistrat angesehenen Kaiser der frühen Kaiserzeit einen Universalmonarchen werden ließ, "dessen Sorge der ganzen Welt gleichermaßen galt". In der Vorstellung der Zeitgenossen sei das Römische Reich eine wirklich globale Gemeinschaft geworden, in welcher die Unterschiede zwischen Römern und Nicht-Römern sowie der imperialen Herrscherschicht und den imperialen Untertanen nicht mehr von zentraler Bedeutung waren.

Im Folgenden ging DOMINIK FUGGER (Erfurt) auf die Frage ein, ob die Rekonstruktion der germanischen Religion in der Frühen Neuzeit auch als ein imperialer Diskurs aufgefasst werden könne. Anhand einiger einflussreicher Gelehrter zeigte er auf, dass im Hinblick auf die Vermittlung der Edda stets auch imperiale Interessen eine Rolle spielten und diese somit ein Faktor des imperialen "Kulturkampfes" war, wessen sich auch die Autoren und Übersetzer des Werkes immer bewusst waren. Der Vortrag fragte vor diesem Hintergrund nach der Reichweite eines theoretischen Angebotes zur Darstellung des Imperialen, welches für eine religionshistorische Beschäftigung mit der Edda in der Frühen Neuzeit fruchtbar gemacht werden könne.

JENS KUGELE (Gießen) betrachtete im letzten Vortrag des zweiten Konferenztages sowohl die Raumzeitlichkeit im Allgemeinen als auch die imperiale Raumzeitlichkeit im Besonderen ebenfalls aus religionswissenschaftlicher Perspektive. Ausgangspunkt war das von Michail Bachtin in den 1930er- und 1970er-Jahren entwickelte Konzept des "Chronotopos". Obwohl dieses Konzept, welches sich mit dem Verhältnis von Raum und Zeit befasst, ursprünglich einen Fokus auf literarisch gestaltete Texte besaß, geht Kugele davon aus, dass es für die religionswissenschaftliche Forschung anschlussfähig ist. Dies wurde anhand eines ausgewählten Beispiels, der rituellen Inszenierung in der Washington National Cathedral, für die Analyse narrativer, materieller und performativer Raumzeitlichkeit des Imperialen erläutert.

Die Einführung in das fünfte Panel übernahmen IRIS SCHRÖDER (Erfurt) und SEBASTIAN DORSCH (Erfurt), die auf den besonderen Wert kartographischer Regime und Praktiken im Hinblick auf die Untersuchung von Raum-Zeitlichkeiten im imperialen Zeitalter hinwiesen.

BERNARDO A. MICHAEL (Mechanicsburg /Grantham, PA) setzte sich damit auseinander, wie sich Kolonialbeamten klar abgegrenzte Territorien in Südasien (insbesondere im heutigen Nepal) vorstellten und welche Maßnahmen sie ergriffen, um diese Idee umzusetzen und aufrecht zu erhalten. Dabei fokussierte er die räumlichen Spuren, die verschiedene Variablen, wie Abgaben, Steuern und Grundbesitz, im Hinblick auf die Stabilisierung des Territoriums zurückließen. Michael stellte fest, dass Fragen der Raum-Zeitlichkeit eine zentrale Rolle für die Kolonialverwaltung spielten, wobei sich eine Raumangst nicht nur in Vermessungs- und Kartenprojekten zeigte, sondern ebenso in Routinen und Praktiken der alltäglichen Verwaltung.

Im Folgenden befasste sich ALRUN SCHMIDTKE (Berlin) mit der Entstehung von Bruno Hassensteins Japan-Atlas, welcher zwischen 1885 und 1887 in zwei Bänden im Gothaer Perthes-Verlag erschien. Trotz des kommerziellen Misserfolgs sieht Schmidtke in dessen jahrelanger Entstehungsgeschichte ein geeignetes Fallbeispiel, um den Beginn des Corporate Branding in deutschen Verlagshäusern zu beleuchten. Außerdem handelte es sich hierbei um ein kartographisches Meisterwerk, welches sowohl für die Arbeit im Verlagshaus Perthes als auch im Hinblick auf die Bedeutung zeitgenössischer nationaler und imperialer Projekte als beispielgebend angesehen werden könne.

In seinem Vortrag stellte sich STEPHEN WALSH (Harvard University, Cambridge/Massachusetts) die Frage, wie die Polarregionen zu einem Raum konkurrierender imperialistischer Projekte und Länder werden und in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll in Besitz genommen werden konnten. Während frühere Entdecker wie James Cook nur wenig Nutzen in der Besetzung dieser Gebiete sahen, wurde die Erkundung der Polarregionen - exemplarisch untersuchte er die Arktikinsel Jan Mayen - spätestens mit dem ersten Weltkrieg zu einem Ort, an dem technologische Fortschrittlichkeit in globaler Konkurrenz und Kooperation verhandelt und repräsentiert wurde. Unter den vielen bedeutsamen Veränderungen seiner Zeit, werde jedoch gerade der Bedeutungszuwachs der massendatengetriebenen induktiven Wissenschaften oftmals übersehen. Diese jedoch ermöglichten erst die Inbesitznahme der Polarregionen im 20. Jahrhundert.

HOLT MEYER (Erfurt) führte am Nachmittag anhand der Umbenennung der Ortschaft Pristanien in Paßdorf im Juni 1938, einem Beispiel für die Restauration "deutsch-klingenden" Sprachmaterials mit dem Ziel der Reinigung bestimmter Territorien von vorhandener "Fremdkontamination", in das sechste Panel zur Raum-Zeitlichkeit des Deplatzierten in Ostpreußen ein.

Im Zentrum des Beitrages von CHARLTON PAYNE (Greifswald) stand die von Theodor Schieder erarbeitete Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa am Ende des Zweiten Weltkrieges, und die Frage, welches Bild diese Dokumentation vom damaligen Königsberg bzw. Ostpreußen gerade im Hinblick auf das Imperiale zeichnete. Königsberg bzw. Ostpreußen, welches seit dem Versailler Vertrag durch einen polnischen Korridor vom Rest des Reiches abgeschnitten war, sei als ein Feldlager von Verletzten und Bedrohten repräsentiert worden, welche, von sowjetischen Streitkräften umgeben, versuchten, über das Frische Haff zu entkommen, bevor die Stadt ein Schauplatz der Misshandlungen durch die sowjetischen Soldaten würde. Erlebnisberichte der Leidensgeschichte deplatzierter Königsberger wurden von den dokumentierenden Historikern aufgezeichnet, um die Spuren der imperialen NS-Vergangenheit in dieser Region zu verwischen und gleichzeitig einen politisch nützlichen Konsens über die Unrechtmäßigkeit der sowjetischen Besatzung mit zu konstituieren.

Im anschließenden Beitrag griff HOLT MEYER (Erfurt) das Thema seiner Einleitung erneut auf. Ausgehend von dem dort geschilderten Ausradieren als undeutsch erachteter Worte auf den Landkarten als Beispiel eines extremen Nationalismus, ging Meyer in seinem Vortrag auf einen besonderen Fall der "Russifizierung" Ostpreußens, die willkürliche Umbenennung des Ortes Puschdorf in Puškino und später in Puškarevo, nach der Annexion und Integration des Gebietes in die Sowjetunion, ein. Diese Willkür, welche auch für den eklatanten Nationalismus der imperialen Militärpraktiken zulässig war, stehe jedoch in einem radikalen Kontrast zur explizit anti-nationalistischen und anti-imperialen Politik, welche angeblich das Leitmotiv des stalinistischen marxistisch-leninistischen Staates gewesen war.

Bei der abendlichen Fortsetzung des Panels haben PER BRODERSEN (Berlin) und BERT HOPPE (Berlin), beide Autoren von Büchern über die Transformation von Königsberg zu Kaliningrad, weitere Aspekte dieser Geschichte als imperialer Geschichte herausarbeitet, wobei sie Beispiele weniger aus textuellen Zeugnissen als aus visuellen Zeichen und architektonischen Praktiken bezogen haben.

Das siebente Panel fand am Samstag erneut in Erfurt statt und wurde von HEINER STAHL (Siegen) eingeleitet. JAN KIEPE (Zürich) setzte sich darin mit der Lehrplanarbeit an den SED-Parteischulen auseinander. Ausgehend von einer in der neueren Forschung hervorgehobenen These, wonach die Kommunisten und Sozialisten über ein spezifisches Zeitverständnis die Zeit zu beherrschen versuchten, und anhand des von Michel Foucault beschriebenen Phänomens der Herausbildung einer "Mikrophysik der Macht", welche darauf abziele den Menschen, insbesondere dessen Körper, gefügig zu machen. Die Zeitplanung und somit auch die Lehrplanarbeit an den SED-Schulen sei hierbei eine entscheidende Regulierungskraft gewesen, die auf die Regelmäßigkeit und die Fähigkeit zielte, die Zeit vollends zu nutzen. Ein Plan zur Machtdurchsetzung setze aber auch immer eine Bewährung in der sozialen Wirklichkeit voraus, welche, wie an einigen konkreten Beispielen gezeigt wurde, an den SED-Parteischulen nicht immer zu konstatieren sei.

HEINER STAHL (Siegen) und TOM WILKE (Tübingen), welcher leider nicht persönlich anwesend sein konnte, gingen in ihrem Beitrag auf den Raum "Diskothek" ein, welchen sie im Anschluss an Michel Foucault als Dispositiv auffassten, der zudem einen kommunikativen und medialen Bestandteil der alltäglichen Vergemeinschaftungsprozesse darstelle. Aufbauend auf den raum-theoretischen Ansätzen Jörg Dünnes konstatierten die Autoren, dass die Diskothek "in ihrer ereignishaften Kollektivität [als] manifester Ausdruck auditiver Medienkulturen" erfasst werden könne und sich "in ihrer spezifischen Ausprägung in Kultur und Gesellschaften" integriere. Damit sei davon auszugehen, dass sich für einen Großteil der Besucher einer Disko in diesem Besuch "Aspekte von Regression, Konsum, Tagträumerei, Selbstdarstellung und Sozialverhalten als Bestandteil oder als Opponent zum Alltag" realisieren.

Insgesamt konnte die Tagung viele interessante Aspekte des Raumzeitlichen ansprechen und diese, trotz der weitgespannten Thematik und der vielen unterschiedlichen Perspektiven erfolgreich miteinander verknüpfen. Ungeachtet des vollen Programms blieb genug Raum für spannende Diskussionen, die die Tagung durchgehend bereicherten und die Relevanz eines interdisziplinären Blickes auf das Raumzeitliche nachhaltig bekräftigten.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung: Susanne Rau (Erfurt) und Holt Meyer (Erfurt)

Panel I: Reflecting on Narrative Othering through Imperial TimeSpaces
Moderation: Robert Fischer (Erfurt) und Florian Heintze (Erfurt)

Saurabh Dube (Mexico-City): Enchantments and Incitements: Modernity, Time/Space, Margins

Gesa Mackenthun (Rostock): "Unhallowed Mysteries" in the Colonial Archive. Competing Epistemologies in North America

Ishita Banerjee-Dube (Mexico-City): In Other Times: Apocalypse, Temporality, Spatiality in Eastern India

Kommentar: Alf Lüdtke (Erfurt/Göttingen)

Panel II: Gender in the Empire
Moderation: Katharina Waldner (Erfurt) und Susanne Rau (Erfurt)

Andrea Petö (Budapest): Imperial Imaginations Digitalised and Gendered: Imaginations of European Far Right

Christine Lebeau (Paris): Maria Theresa and the Habsburg-Dynasty: Aspects of Gender

Silvan Niedermeier (Erfurt): Imperial Masculinities: Representing Gender in U.S. Soldiers’ Photo Collections of the Philippine-American War

Joanna De Groot (York): Beyond blindness, bias and marginalisation: gender and the making/unmaking of colonial, anti-colonial and post-colonial analyses

Panel III: Europa, raumzeitliche Orientierung und das Imperiale
Moderation: Bärbel Frischmann (Erfurt)

Olaf Asbach (Hamburg): Die neuzeitliche Narration „Europa“ und ihr imperialer Anspruch

Elizabeth Millán (Chicago): Alexander von Humboldt’s Interest in America: In the Service of Empire or of Humanity?

Christian Holtorf (Coburg): Wohin am Nordpol? Die Arktis als Fluchtpunkt für Raum und Zeit

Panel IV: God(s) in the Empire: Mapping Imperial Religion(s)
Moderation: Katharina Waldner (Erfurt)

John Weisweiler (Zürich): The Globalization of the Roman Monarchy. Spatial, Imperial Ideology and the Self-Transformation of Empire.

Dominik Fugger (Erfurt): Die Rekonstruktion germanischer Religion als imperialer Diskurs?

Jens Kugele (Gießen): (Imperiale) Raumzeitlichkeit aus religionswissenschaftlicher Perspektive

Panel V: Cartographies of the Imperial Age
Moderation: Sebastian Dorsch (Erfurt) und Iris Schröder (Gotha/Erfurt)

Bernardo A. Michael (Mechanicsburg/Grantham, PA): Can the history of colonial cartography include more than the study of maps and mapmaking?

Alrun Schmidtke (Berlin): Cartographic Ambitions from Yokohama to Gotha. Bruno Hassenstein's "Atlas of Japan" (1885/87)

Stephen Walsh (Harvard, Cambridge): Void into Meaning: Empires of Trigonometry & Geomagnetism in the Far North

Panel VI: Medien-Narrative von Königsberg/Kaliningrad: Raum-Zeitlichkeit des Deplatzierten und seiner wissenschaftlichen Erfassung
Moderation: Holt Meyer (Erfurt)

Charlton Payne (Greifswald): The Schieder Commission’s Archiving of Displaced East Prussians: Fictional and Official Constructions of a Post-Imperial Königsberg

Holt Meyer (Erfurt): Paßdorf, Puschdorf and Pushkino: (Re)Constructing ‚Germanness’ and ‚Russianness’ in Cartographic Practices Pertaining to East Prussia in 1938 and 1947

‚Runder Tisch’ zum Thema Raum-Zeit-Erfassen in wissenschaftlichen und weniger wissenschaftlichen Monographien zu Königsberg/Kaliningrad aus medialer Sicht
Moderation: Holt Meyer (Erfurt)
Teilnehmer: Bert Hoppe (Berlin), Per Brodersen (Berlin) und Holt Meyer (Erfurt)

Panel VI: Rhythmen des Empire. Von den Taktungen der Körper, der Bewegungen und den Räumen der Aufführung
Moderation: Heiner Stahl (Siegen)

Jan Kiepe (Zürich): Zeitplanung und Grenzen der Machtdurchsetzung. Eine Analyse der Lehrplanarbeit an SED-Parteischulen

Heiner Stahl (Siegen) / Tom Wilke (Tübingen): Die Rhythmen der Aufführung. Wie das Tanzen im Club die Zeitwahrnehmung auflöst

Allgemeine Abschlussdiskussion

Kommentare: Holt Meyer (Erfurt) / Alf Lüdtke (Erfurt/Göttingen)